Das war's

Das war's

Draußen war es Ende des Jahres. Einer jener frühen Dezembertage, die schon wieder nach Frühling rochen, weil sie den jähen Einbruch des Winters im November schon hinter sich hatten aber die durchaus berichtigte Hoffnung auf weiße Weihnachten noch vor sich.

 

Drinnen war es Ende des Lebens. Dieser Geruch des Unabänderlichen lag so intensiv und schwer in der Luft, dass ihn selbst der strenge Essensdunst nicht bei Seite schieben konnte. Draußen der laue Frühling voller Optimismus, drinnen der herbe Herbst ohne Hoffnung. Nur eine Schwingtür hatte uns getrennt, dann standen wir in der Eingangshalle des Hygiene-Hauses, wo alles so glatt gefugt ist, dass das Hineinschieben der Alten ohne Muckser verläuft, das Abschieben ohne Reibung. Das Gefühl der Endlichkeit packt einen urplötzlich von allen Seiten und schiebt einen mit Macht durch Flure und Etagen. Es war plötzlich so still, dass auch wir plötzlich ohne Sprache dastanden.

 

Anstelle eines Empfangschefs gab es einen Empfangstisch, der der Orientierung dienen sollte. Fein säuberlich und akkurat waren alle Namen auf eine Glasplatte geklebt, dahinter stand die jeweilige Zimmernummer. Ein leichter Zug nur und das Schild war ab, Ohne Rückstände und makellos in Sekunden durch ein neues zu ersetzen. Austauschen heißt es dann.

 

Wir kannten nun die Etage, die Zimmernummer und machten uns auf den Weg. Ein besonders langgestreckter stählerner Aufzug nahm uns mit und spuckte uns nur wenige Meter von dem gesuchten Zimmer aus. Nur hier und da gewahrten wir etwas Lebendiges, ansonsten schien das Haus zu schlafen. Ein lang aufgeschossener Weißkittel klopfte für uns an und gab uns den Eingang frei. Da lag sie, aufgebahrt, eingefallen, unlebendig aber lebend. Ein hell gestrichenes Betonzimmer, Ein Containerbad, Bilder mit Klebehaken zum Abziehen. An die Wand gedrängt, ganz dicht bei der Rufklingel, war das Stahlbett geschoben, auf Rädern, weil es ja nur für die vorletzte Ruhe bestimmt war und auf dem so lange schlafen sollte bis man für immer eingeschlafen war.

 

Totenstille. Nicht einmal das Atmen war zu hören. Wir mussten uns schreiend ankündigen, zwei- dreimal nannten wir unsere Namen, dann hatte das Hörrohr unsere Stimmen übersetzt. Glasige eingefallene trübe tote Augen stierten uns an, schauten in unsere Richtung. Eine schwache Bewegung erfasste das Gesicht, eine Wiedersehensfreude war nicht zu erkennen, eher trauriges Erinnern. Wir fingen eine Unterhaltung an.

 

Die alte Dame, meine Tante, wollte lieber sitzen. Lieber in einem Sessel. Vier kräftige Hände packten sie, leicht wie eine Feder, auf einen bereitstehenden Sessel, immer ganz nah an der Klingel. Als wir sie aus der dicken Daunenbettdecke pellten, war ihr schwacher Körper noch von einer Wolldecke zugeschlagen und darunter völlig bekleidet. Auch Hausschuhe hatte sie an, für alle Fälle, obwohl sie seit langem nicht mehr auf ihren eigenen Füßen gestanden hatte.

 

Jetzt schien sie zufriedener. Sie war nicht sehr wissbegierig. Also fragten wir. Woran sie so den lieben langen Tag denken würde. Wie schlecht es ihr ginge, war dann die Antwort. Und dass sie sich nie hätte vorstellen können, das Leben so zu beenden. Kaum noch hören zu können, fast nichts mehr zu sehen, nahezu unvermögend, sich von selbst bewegen zu können, tatenlos zu sein. Das einzige, das noch recht durchblutet schien, war das Erinnerungsvermögen, ganz besonders gut das Langzeitgedächtnis. Was denn die schönsten Gedanken wären, wollten wir wissen. Das Schönste, an das sie sich immer erinnern könnte, wären die Jahre in Metz gewesen. 1913, die Zeit der Erfüllung, die Jahre der gesellschaftlichen Anerkennung.

 

Als 22-jähriges junges Ding sei sie als Tochter eines Oberst von Ball zu Ball geflogen wie eine Biene sich den Nektar der Bewunderung einsaugend. Soviel Vorrat muss sie damals davon emsig gesammelt haben, dass sie heute noch davon zehrt, so intensiv, dass sie sich fast in der Erinnerung aufgezehrt hat.

 

Wenn man doch nur jede Sekunde, die man wach ist, daran denken könnte, klagt sie. Leider haben die bösen Erinnerungen in ihr längst den Kampf gewonnen. Eine Hölle ist das, schon zu Lebzeiten. Immer wieder und immer wieder tritt ihr vor Augen der Geist des Niemand, des Nutzlosen. Unnütz sei ihr Leben gewesen, sie hätte alle Kraft für sich behalten, deshalb musste ihr Herz noch schlagen, sei noch immer etwas aufgedreht. Sie könne doch nichts dafür, so sei es eben immer damals gewesen, in ihren Kreisen.

 

Es ist zwei Uhr. Es gibt Kaffee und Kuchen. Den Kuchen mag sie nicht. Den Kaffee flößen wir ihr schlückchenweise ein. Dann unternehmen wir zu Dritt einen Spaziergang auf der Terrasse. Hin und Her. Schrittchenweise. Die Anstrengung ist fast zu viel. Man ist nichts mehr gewohnt. Nicht mal mehr das Gehen. Zurück auf den Sessel, zurück zur Klingel.

 

Was es denn so auf der Welt Neues gäbe. Noch ist man ja da, auch wenn die neuesten Nachrichten den Beton nicht mehr durchdringen. Ja, ja, der Kommunismus. Und all die kostspieligen Angelegenheiten. Ja, ja.

 

Es wird Zeit, sich für den Abschied einzurichten. Erst mal wieder ins Bett. In bester Reichweite zur Klingel. Angezogen. Denn ausgezogen wird man später. Die Rituale müssen bleiben.

 

Den Vorhang bitte drei Viertel zuziehen, die Welt draußen soll noch nicht ganz draußen bleiben. Schade, dass wir wieder gehen müssen. Alle müssen immer wieder gehen. Der herbste Verlust ist der Heimleiter, der Ende des Jahres gehen muss. Wohin weiß man noch nicht. Warum weiß man auch nicht. Er war auf jeden Fall der liebste Mensch, den sie hatte. So lieb war noch niemand zu ihr in ihrem ganzen Leben. Ganz als ob es ihr eigener Mann gewesen wäre, haucht sie uns an. Und das am Ende ihres langen Lebens. Dass der geht ist das Schlimmste, das mir passieren konnte. Wirklich sagt sie. Und Weihnachten. Davor graut ihr ebenso. Das kann sie eigentlich keinem Menschen erzählen. Wie ihr davor graut.

 

Wir kämen ja nach Weihnachten wieder. Im Frühjahr. Das wäre ja gar nicht mehr so lange.

 

Der Gedanke, dass man nie mehr gesund werden kann, nie mehr aus diesem Bett aufstehen wird, nie mehr das Zimmer verlassen kann, wenigstens nicht aus eigenen Stücken – das ist plötzlich zu viel. Und wenn die Tränensäcke nicht schon fast ausgetrocknet wären, dann hätten sie jetzt Flüssigkeit produziert. So liegt die Luft voller Tränen, der Abschied schmerzt. Wie gern wäre sie bald im Himmel.

 

Draußen ist er schon wieder grau. Es ist fast dunkel. Bis bald haucht es uns von den Lippen. Dann sind wir draußen.

 

 

© Claus von Lengerke